Shiro war verbittert. Sie konnte Ken noch immer nicht recht glauben. Keinem seiner Worte und doch trafen sie das Mädchen dennoch und das auch noch mehr, als sie eigentlich zugeben wollte. Ihr Gesicht war bereits stark rot, was auf Grund ihrer schneeweißen Haut für ihren Geschmack wohl viel zu gut sichtbar war. Sie spürte dieses verdammte unangenehme Kribbeln, welches verriet, das sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Sie wollte solche Schwäche nicht zeigen. Vor niemandem. Weder vor Fremden, noch vor Ken, noch nicht einmal vor sich selbst. Sie konnte und wollte sich selbst eine solche Schwäche nicht eingestehen. Ken versuchte weiter auf sie einzureden, doch Shiro wies schließlich auf die Mauern. Sie wollte, dass der Junge mit ihr verschwand. Sie wollte dieses Dorf hinter sich lassen. All die schlechten Erinnerungen. All die Pein, die dieses Dorf, diese Menschen mit sich brachten. Sie wollte dem Dorf nicht schaden mit dieser Tat. Sie war dem amtierenden Mizukagen, Fudo Hikari, tatsächlich dankbar dafür, dass er einer der ersten ist oder war, der sie wohl nicht einfach nur als Tiere sah und sie von den lächerlichen Halsbändern befreite. Doch jeder Gedanke an dieses Dorf sorgte dafür, dass sie sich wie in einem weiteren Käfig fühlte. Ihre Eltern, beziehungsweise ihre Mutter, lebte noch immer ein, wohl friedliches, Leben hinter diesen schützenden Mauern. Noch immer wurden sowohl Shiro als auch Ken angegafft wie ein Stier beim Stierkampf. Eine gefährliche Bestie, die man töten konnte und wollte. Vor der man ehrfürchtig war und dennoch sie mit Gier und Hass anstarrte und sich mit Spaß an dessen Leid erfreute. Die Taten der Wissenschaftler und der früheren Mizukagen und Shinobis, sowie ihrer Eltern hatten sich fest in Shiros Charakter eingebrannt. Selbst wenn keiner sie beachtete, fühlte sie sich beobachtet und verachtet. Gehasst und unerwünscht. Sie wollte fliehen. Sie wollte frei sein.
Es kam keine Reaktion von Ken. Zuerst. Shiros Kagune schoss aus ihrem Rücken heraus und sie hob ihren zierlichen Körper direkt über Ken hinweg. Sie wollte sich direkt in Bewegung Richtung Mauer setzen. Ihre Tränen versuchte sie zu verbergen. Erst noch zu unterdrücken, aber dennoch fand eine schließlich doch ihren Weg zum Boden. Erst dachte die Albino, dass Ken sie tatsächlich laufen lassen würde und ihr nicht folgte. Für einen Moment keimte Wut in ihr auf. Dann wollte diese Wut in Enttäuschung umschwenken doch dann wurde es sehr schnell ein: Ich hab's ja gewusst. Überraschung folgte erst, als Ken sich dann doch in Bewegung setzte. Shiro wurde spätestens jetzt schnell klar, dass der Junge in Kokuria nicht gelogen hatte: Er war zumindest mal schneller als sie. Das er auch mittlerweile stärker war, wollte Shiro zumindest jetzt mal nicht bestreiten. Sie spürte, wie Ken sich direkt auf sie stürzte und sie zwanghaft in Richtung Boden gedrückt wurde. Sein Kagune umwickelte ihren Körper. Sie spürte die Verhärtung und da sie sich selbst schließlich auch damit auskannte, wusste sie genau, was das bedeutete. Sie hörte ihn etwas von einem Übungsprotokoll brüllen und natürlich kannte sie den Code. Unsanft stieß sie auf dem Boden auf. Doch Schmerzen spürte sie von dieser Kleinigkeit keine. Shiros Blick war nach Oben zum Himmel gerichtet, doch bewegen konnte sie sich für den Moment nicht. Noch immer waren ihre Kagune aktiv. Sie hörte die Stimme von Ken und hörte diesen zu. Dennoch biss sie die Zähne zusammen. In ihren Augen spiegelte sich Zorn wieder, doch auch das Wässrige durch die Tränen war nicht zu übersehen. Er kam ein Stückchen näher um sich zu entschuldigen, dass der sie angefasst hatte, ließ sie dann jedoch komplett los. Schnell hatte sich das Mädchen aufgerichtet.
Auch ein Fudo Hikari kann uns nicht über die ganze Welt hinweg verfolgen. Ich habe kein bock diesem scheiß Dorf zu schaden. Aber ich habe auch kein bock hier weiter wie im Käfig zu hocken und nur diese versifften Mauern zu verlassen wenn ein bescheuerter Hutträger uns das erlaubt! fluchte sie, doch ihre Stimme zitterte sowohl vom Zorn als auch von ihrem Kampf mit den Tränen. Ihre Kagune bewegten sich so, dass sie neben ihrem Körper rechts und links gut sichtbar waren. Ihre Spitzen deuteten direkt in Kens Richtung. Ken hingegen hatte seine Defensive komplett vernachlässigt. Einer seine Auswüchse schnellte zu der Maske, welche sie ihm zuvor aus der Hand geschlagen hatte. Er hielt sie hin und erklärte, warum sie sie nehmen sollte. Das Mädchen streckte zitternd die Hand nach der Maske aus. Doch stockte sie dann und blickte etwas perplex auf dieses bebende Körperteil.
Warum zittere ich? ... Das bin nicht ich... was ist nur los mit mir..... Shiro schien wie versteinert, während sich plötzlich einer ihrer Auswüchse vorbewegte direkt zu ihrer Hand. Es sah fast so aus, als würde sich dieser Schweif selbstständig machen, wenn man nicht wüsste, dass Shiro vollste Kontrolle darüber hatte. Ein paar Sekunden schwebte diese rote Tentakel über ihrer ausgestreckten, zitternden Hand, ehe sie plötzlich ruckartig sich dadurch stieß. Shiro biss die Zähne zusammen, durch den plötzlichen, durchdringenden Schmerz. Das waren Schmerzen, die auch sie bemerkte, doch war auch das sehr viel abgeschwächter. Der Auswuchs zog sich wieder aus ihrer Hand. Ein leicht schmerzverzerrtes Grinsen zeichnete sich auf ihren Lippen ab, als sie die durchbohrte Hand ansah und hoch hob und betrachtete. Noch konnte sie durch das Loch hindurch zu Ken sehen.
Jetzt zittert sie zumindest nicht mehr. sagte sie, noch immer leicht grinsend. Blut rann ihren Arm hinab. Sie folgte den roten Bahnen.
Immer wieder eine tolle Farbe, oder was meinst du, Ken? sagte Shiro und
grinste ihn nur an. Die Maske hatte sie noch immer nicht genommen. Doch war auch das Verlangen zu heulen verschwunden, durch diesen Schmerzimpuls. Durch ihre besondere Wundheilung fing die Verletzung jedoch schon an, wieder zuzuwachsen. Ein Wunderwerk, immer wieder. Langsam verschwand das Grinsen auch wieder aus Shiros Gesicht. Sie hatte verstanden, dass Ken sie daran hindern würde, fort zu kommen und sie konnte nichts dagegen tun. Das wurmte sie, doch brachte es auch nichts, da nun gegen an zu gehen. Komplett dämlich war das Mädchen dann doch nicht. So legten sich ernste Züge wieder in ihr Gesicht.
Ich verstehe immer noch nicht, warum du das alles tust. sagte sie bloß.
Du redest immer davon, dass du mich gern hast und du ohne mich niemanden mehr hast und ich dir wichtig bin, blah blah... aber warum? Ich verstehe es nicht. Wie kann man jemanden gern haben einfach so? fragte Shiro mit fast kindlicher Unschuld. Shiro hatte nie gelernt, was Liebe oder Zuneigung war. Sie kannte diese Gefühle nicht, genau so wenig hatte sie diese bisher bewusst selbst ausgelebt. Sie wusste nicht, dass diese tiefe Liebe, die sie zu ihren Eltern verspürt hatte, tatsächlich Liebe war. Denn die Liebe war zu Hass geworden. Hass war ein Gefühl, welches ihr komplettes bisheriges Leben bestimmt hatte. Für sie war Liebe mit Hass gleich zu setzen. Sie blickte wieder auf ihre Hand. Die selbst zugefügte Wunde sah bereits viel besser aus. Leicht verträumt ergriff sie wieder das Wort.
Vielleicht... fing sie nachdenklich an.
...wäre ich traurig, wenn du stirbst. Wenn ich darüber nachdenke, bist du vielleicht sogar der Einzige, bei dem es mir nicht gleichgültig wäre, wenn dir jemand dein Bäuchlein aufschlitzt und all deine Eingeweide nach außen kehrt... eine ganze Weile dachte Shiro darüber nach und versuchte sich diese Situation vorzustellen, dann sprach sie weiter:
Nein, das wäre mir nicht egal. Ist das schon Zuneigung? Heißt das schon, dass du mir wichtig bist? Ich glaube, wenn dich jemand umbringt, dann möchte ich die jenige sein, die dein inneres nach außen kehrt. Fällt das unter "mögen", Ken? Sag es mir, ich weiß es wirklich nicht... sagte sie nachdenklich. Dann hob sie den Kopf. Sie war ruhiger geworden als vorher. Der Schmerzimpuls hatte ihre Gedanken definitiv auf etwas anderes konzentriert. Doch ihre zitternde Hand hatte ihr bloß gezeigt, wie sehr sie sich von dieser Situation plötzlich beeinflussen ließ und sie hatte gemerkt: Sie konnte gegen Ken momentan nichts ausrichten.